Liberating Structures – Befreiende Strukturen für bessere Kommunikation

In einer Arbeitswelt, in der Kommunikation, Kreativität und Innovation immer wichtiger werden, stoßen konventionelle Kommunikationsstrukturen an ihre Grenzen. Ein guter Zeitpunkt, sich davon zu befreien und Neues auszuprobieren. Liberating Structures bereichern dazu unsere Möglichkeiten mit einem Werkzeugkasten aus aktuell 33 Methoden, auch Mikrostrukturen genannt, die Menschen unkompliziert, fokussiert und schnell miteinander ins Gespräch bringen.

Das alte Kommunikationskorsett ist zu eng geworden

Sind wir sie nicht alle leid, diese Meetings, Vorträge, Seminare, bei denen vor allem eine Person redet und der Rest zuhört? Und selbst wenn noch Zeit für Wortbeiträge aus der Runde bleibt, melden sich fast immer nur die Redegewandten, Extravertierten, also die, die immer reden. Ein echter Diskurs, fruchtbarer Austausch und Reflexion sind so kaum möglich.

Das liegt nicht unbedingt an den Beteiligten. Man will schon zu einer offenen Kommunikation einladen bzw. beitragen. Doch die althergebrachten Strukturen lassen das oft gar nicht zu:

  • fehlende, unklare oder unambitionierte Zielsetzungen und nichtssagende Einladungen – die Latte der Erwartungen wird von vornherein niedrig gesetzt,
  • starre Raumgestaltung,
  • detailreiche Eingangsstatements/Vorträge,
  • stark reglementierte (z.B. geführte Podiumsdiskussionen) ebenso wie zu desorganisierte Gesprächsforen (wie nicht-moderierte Meetings) behindern unabsichtlich Interaktion und Engagement,
  • nacheinander abzuarbeitende Rednerlisten, bei denen der Bezug zum ursprünglichen Redeimpuls schnell verloren geht,
  • lange Wortbeiträge, die nicht auf den Punkt kommen – häufige Wiederholungen und immer längere Wartezeiten inklusive,
  • mancherlei Macht- und Status-Gerangel, Zwischenrufe und Zwiegespräche, die die Rednerliste ignorieren und den Rest der Anwesenden frustrieren.

Manche bremst zusätzlich die Scheu, vor größeren Gruppen zu sprechen, oder der Anspruch, sich nur dann zu Wort zu melden, wenn man wirklich etwas Wichtiges, Neues beizutragen hat (Letzteres gilt besonders für Frauen).

Damit zählen Sitzungen & Co. eher zu den Energie- und Ressourcenfressern als zu den Nutzenstiftern. Fach- und Führungskräfte werden demotiviert. Den Unternehmen entgehen unzählbar viele Denkanstöße, neue Ideen und Innovationen. Doch genau die sind in der heutigen Arbeitswelt erfolgsentscheidend. Fragt sich nur:

  • Wie können Ideenfindungs- und Entscheidungsprozesse in Gruppen sinnvoll organisiert werden?
  • Wie kann sich jeder Teilnehmende dabei mit seinem Wissen und seinen Potenzialen produktiv einbringen?
  • Wie kann neue Inspiration in Teams entstehen und wie können alte Probleme wirkungsvoll gelöst werden?

Befreiende Strukturen schaffen

Menschen sind in Arbeits- und Lernsituationen um ein Vielfaches produktiver, wenn sie sich aktiv einbringen, in kleinen Teams zusammenarbeiten und ihre eigene Zukunft mitgestalten können. Mit den passenden Strukturen können sie kreative Energie freisetzen, die sonst in ermüdenden Auseinandersetzungen verpuffen würden.

Liberating Structures Logo

Liberating: [verb] to set free from imposed, controlling structures.

Structures: [noun] set of simple rules that specify how people are included and partizipate.

Liberating Structures: Simple rules that make it easy to include and unleash everyone in shaping the future.¹

So dachten auch der US-Amerikaner Keith McCandless und der Franzose Henri Lipmanowicz, die Urheber der Liberating Structures (LS). Bei einer zufälligen Begegnung im Plexus Institute (gegr. 2000 in Washington) diskutierten sie darüber, dass Komplexitätswissenschaften praktische Anwendungen haben und für jedermann zugänglich sein könnten. McCandless hatte als erfahrener Stiftungsleiter im Gesundheitswesen und engagiertes Gründungsmitglied der Social Invention Group großes Interesse an transformativen Lern- und Planungsmethoden. Diese trafen auf Lipmanowitz‘ Geschäftssinn – er war immerhin 30 Jahre lang Top-Manager eines Global Players und Gründungsmitglied des Plexus Institutes.

Das Ergebnis: Sie sammelten die ersten Prototypen der Liberating Structures. Dazu griffen sie zunächst auf bestehende Strukturen wie Open Space, Appreciative Inquiry und Fishbowl zurück, die sie an ihre Bedarfe anpassten. Zusätzlich entwickelten sie weitere, vielseitig einsetzbare Module mit dem Ziel, viele Menschen schnell und möglichst einfach in Ideengenerierung und Entscheidungsfindung einzubinden. Inzwischen gibt es ein wachsendes Methodenset aus LS-Mikrostrukturen, das unter Creative Commons Lizenz (CC BY NC) frei zugänglich ist.

Sowohl von McCandless/Lipmanowicz als auch aus den weltweit und ebenso in Deutschland verbreiteten User Groups entstehen neue Ideen für weitere Module, die getestet und verfeinert und schließlich als empfehlenswerte Mikrostrukturen zunächst auf der amerikanischen LS-Website veröffentlicht werden (siehe Links am Ende des Beitrags). Interessierte können in den User Groups/MeetUps die LS-Strukturen ausprobieren, Praktiker*innen tauschen sich dort aus, teilen ihre Erfahrungen und lernen von- und miteinander. Diese Community-Bildung ist bereits ein Teil des hinter den LS stehenden Mindsets.

Das Mindset hinter den Liberating Structures

LS als alternative Kommunikationsstrukturen sind einfach und schnell zu lernen. Sie können von jeder/jedem genutzt werden: von Unternehmensführung oder Betriebs- und Personalrät*innen, von externen Begleiter*innen oder Teammitgliedern. Ausschlaggebend ist die innere Haltung, denn nicht die Mikrostrukturen selbst machen den entscheidenden Unterschied, sondern die Glaubwürdigkeit, mit der Menschen dazu eingeladen werden, sich zu öffnen und aktiv mitzugestalten. Ohne diese Haltung sind auch die Liberating Structures einfach nur eine Sammlung von Tools. Denn: A fool with a tool is still a fool.

Dem Einsatz von LS liegt die Haltung zugrunde, Wissen nicht exklusiv zu behandeln, sondern frei zur Verfügung zu stellen, mit dem Ziel, Co-Kreation und Partizipation zu unterstützen und möglichst viele Akteur*Innen einzubinden. Die Mikrostrukturen ermöglichen es, in kurzer Zeit gegenseitiges Verständnis, eine gemeinsame Richtung, engere Zusammenarbeit, Verbundenheit und gegenseitige Unterstützung zu entwickeln.

Besonders bei Anhänger*innen agiler Arbeitsweisen haben die LS schnell an Beliebtheit gewonnen. Kein Wunder, immerhin orientieren auch sie sich grundsätzlich an „agilen Werten“ wie Commitment, Einfachheit, Feedback.

Die mit LS verbundene Haltung wird mit diesen Prinzipien beschrieben:

  • Alle einbeziehen und ehrlich dazu einladen, sich frei zu äußern.
  • Tiefen Respekt vor Menschen beweisen und lokale Lösungen achten.
  • Mit jedem Schritt weiter Vertrauen aufbauen, für psychologische Sicherheit sorgen.
  • Lernen durch „vorwärts Scheitern“, also Dinge auszuprobieren auch mit dem Risiko, dass etwas nicht klappt.
  • Selbstfindung in der Gruppe üben, d.h. die eigene Meinung in einer Gruppe von Meinungen entdecken, Diversität begrüßen, Peer-to-Peer-Learning ermöglichen.
  • Freiheit und Verantwortung stärken.
  • In Möglichkeiten denken und glauben, bevor man sieht.
  • Einladen zur „kreativen Disruption“, um Innovationen zu ermöglichen.
  • Wecken von ernsthaft verspielter Neugier.
  • Kein Beginn ohne klaren Zweck.

Wie die Magie wirkt

Dieses Mindset ist die Grundlage der Magie hinter den LS. Hinzu kommen die fünf Designelemente, die jegliche Kommunikation und Interaktion, nicht nur mit LS, entscheidend prägen:

  1. Einladung
  2. Ablauf und Dauer
  3. Aufbau und Materialien
  4. Zusammensetzung der Gruppen
  5. Einbindung der Teilnehmenden

Mit Blick auf die Prinzipien der LS wurden diese fünf Designelemente für jede Mikrostruktur sorgfältig entwickelt, erprobt, verbessert, bevor sie als Modul veröffentlicht wurde. Nichts wird dem Zufall überlassen – daher auch die Bezeichnung „Mikrostruktur“, also Feinstruktur innerhalb der Kommunikationsstruktur, im Kontrast zu „Makrostrukturen“ wie Hierarchien und Prozesse. LS sind im kleinen Rahmen ab zwei Personen einsetzbar und benötigen keine großen Vorbereitung – auch deshalb heißen sie Mikrostrukturen: Der Aufwand wird so gering wie möglich gehalten.

Alle Module durchlaufen diese rigorosen Tests, um zwei Dinge zu erreichen: Sie sollen von jedem Menschen leicht erlernt und eingesetzt werden können und es sollen reproduzierbar überdurchschnittlich gute Ergebnisse dabei herauskommen.

Beim Einsatz von LS ist es somit klar, wie die Redezeit verteilt wird und wie die Gruppen konfiguriert werden, welche Materialien zur Verfügung gestellt werden und wie das Setting im Raum aussehen wird. Dadurch, dass parallel in vielen Kleingruppen gesprochen wird, kommt jede Person zu Wort. Das knappe Timeboxing fördert den Fokus und hilft, Wiederholungen oder Abschweifungen zu vermeiden. So werden in kurzer Zeit viele Gedanken ausgesprochen bzw. neue Ideen in der Interaktion kreiert. Die entsprechenden „Regieanweisungen“ finden sich in den Erläuterungen der jeweiligen Module in übersichtlicher Form.

Zu den LS gehört immer eine Einladung mit einem klaren Zweck. Für die Fragen, mit denen eine Gruppe zu Kommunikation und Interaktion eingeladen wird, ist stets eine Person oder ein kleines Moderationsteam vor Ort verantwortlich. Hier gilt es, die zu klärenden Herausforderungen zu definieren und ergebnisoffene Fragen sorgfältig zu formulieren, so dass sie weder eine Richtung suggerieren noch die Gedanken einengen. Stattdessen sollen sie einen Fokus setzen und den offenen Austausch ermöglichen. Das braucht vor allem Übung.

Liberating Structures erscheinen so simpel, dass man sich zunächst nur schwer vorstellen kann, welche kraftvolle Wirkung sie im Einsatz entfalten. Es entsteht sehr schnell eine durchweg konstruktive Dynamik, bei der sich die Menschen persönlich und emotional engagieren und dabei das jeweils gesetzte Thema im Fokus behalten.

Mit Liberating Structures Nutzen stiften

LS sind überall dort sinnvoll, wo sich Menschen in Gruppen austauschen und/oder Ideen entwickeln wollen. Sie passen in kleinen Unternehmen genauso wie im Konzern, in öffentlichen Verwaltungen oder Non-Profit-Organisationen. Im Arbeitskontext können sie eingesetzt werden in Meetings, Arbeits- und Projektgruppen, Lernangeboten, Betriebsversammlungen, Projekt- oder Produktvorstellungen, Strategie-Entwicklungen, Präsentationen von Statusberichten uvm. Kurz: in allen Gruppensituationen, in denen man neue Wege ausprobieren und neue Ergebnisse ermöglichen möchte zu folgenden Zwecken:

a) Teilen/Verbreiten von Ideen, Know-How, Erfahrungen, Herausforderungen,
b) Offenlegen, Entdecken, Erschaffen, Entwickeln/Verbessern von Möglichkeiten, Hindernissen, Lösungen, Ideen,
c) Untersuchen, Erkennen, Klären, Detaillieren, Debriefen,
d) Helfen, Hilfe bekommen, Zusammenarbeiten,
e) Strategien entwerfen,
f) Planen.

Manche Module sind besonders für ausgewählte Zwecke dieser Liste geeignet, andere sind für mehrere Zwecke hilfreich. Man kann damit beginnen, einzelne LS-Methoden in Gruppenveranstaltungen einzusetzen und auch so schon erfrischend-neue Resultate erzielen. Eine der einfachsten und besonders häufig genutzten LS-Mikrostrukturen ist z.B. „1-2-4-All“ (besonders geeignet für unter b) genannte Zwecke). Hier denkt man erst einmal alleine nach, dann zu zweit, dann zu viert und schließlich in der ganzen Gruppe. Innerhalb von zwölf Minuten haben alle Teilnehmenden ihren Fokus gesetzt, aktiv Gedanken ausgetauscht, Verbindungen geknüpft und erste Ideen entwickelt. Diese Mikrostruktur hilft dabei, die ersten Hürden zur aktiven Beteiligung zu nehmen und die Grundlage für nächste Bearbeitungsschritte zu schaffen.

Geübtere bilden die sogenannten „Strings“, also eine gut durchdachte Kombination aus mehreren Mikrostrukturen. Diese Kettenbildung ist notwendig, um komplexe Probleme mit Gruppen zu lösen. So können eingeschliffene, unproduktive Kommunikationsmuster wirklich durchbrochen und eine neue, inspirierende Dynamik geweckt werden. Der „Matchmaker“, ein Online-Tool auf der LS-Website, erleichtert es, die geeigneten Module für einen String entsprechend dem definierten Zweck (s.o.) auszuwählen. Alternativ kann man auch die LS Design Cards nutzen.

Liberating Structure Design Cards von Holisticon (Bezugsquelle s.u.)

Liberating Structure Design Cards von Holisticon (Bezugsquelle s.u.)

Meist werden drei bis fünf Mikrostrukturen zu einem String verknüpft, wobei grundsätzlich jede Kombination denkbar ist. Darum empfehlen McCandless/Lipmanowicz, zunächst mehrere alternative Strings mit einem Moderationsteam zu erarbeiten und dann gemeinsam die beste Kombination zur Umsetzung auszuwählen.

String in Liberating Structures

Ein Beispiel:

Dieser String wird auf der US-Website der LS vorgestellt als beliebter „alltäglicher“ String für ein wöchentliches Projektmanagement-Team-Meeting, der die Bewältigung einer vielschichtigen Herausforderung unterstützen soll. Dabei kann es sich um ein Budgetproblem, eine strukturelle Veränderung oder ein Change-Vorhaben handeln – oder um alles drei auf einmal. Vor dem Meeting wird das Thema bereits in anderen Runden mit der Mikrostruktur „1-2-4-All“ diskutiert, jedoch (noch) nicht gelöst. Die daraus entstandenen wichtigen Fragen werden nun mit diesem String im Management-Meeting aufgegriffen. Mit „Wicked Questions“ werden die Kernfragen für die Herausforderung identifiziert und mittels „Conversation Cafe“ reflektiert. In Dreier-Gruppen werden schließlich Handlungsoptionen zu den Kernfragen gesammelt. Für ein mit diesem String moderiertes Management-Meeting sollten ca. 1,5 – 2 Stunden eingeplant werden.

Tipps für den Einsatz von Liberating Structures

Wenn Sie neugierig auf LS und ihre Wirkungsmöglichkeiten geworden ist, dann möchte ich Ihnen Folgendes empfehlen:

  • Lernen Sie Basis-Strukturen in User Groups, MeetUps u.ä. kennen und holen Sie sich Tipps von anderen Praktiker*innen ein, z.B. darüber, wie Sie mit LS den Ideenraum gezielt öffnen und auch wieder schließen. Je mehr Mikrostrukturen Sie kennen, desto besser können Sie auf das reagieren, was die Gruppe gerade braucht.
  • Entdecken Sie Einsatzmöglichkeiten für LS in Ihren Arbeitszusammenhängen und seien Sie kreativ. Sie steigern Akzeptanz und gemeinsame Verantwortung, wenn Sie den ersten Einsatz von LS mit dem Team/ der Gruppe grundsätzlich besprechen und die Grundidee der LS erläutern.
  • Geben Sie als Moderator*in nur den Rahmen für die Interaktion im Raum vor, beteiligen Sie sich aber nicht inhaltlich.
  • Die besondere Kunst bei der Arbeit mit LS liegt in der Formulierung der ergebnisoffenen Einladungen bzw. Fragen und in der Bildung der Strings. Die Versuchung, beliebige Fragen und zufällige Strings zu bilden, mag groß sein, doch dann können auch nur beliebige Ergebnisse entstehen. Es lohnt sich, eine gute Vorbereitung in diese Elemente zu investieren, den Zweck herauszustellen und die LS klar anzumoderieren. Nur so entfalten sie ihre kraftvolle Wirkung zum angestrebten Zweck.
  • Verfallen Sie nicht in „Methodenvöllerei“. Sie können LS gut mit anderen Methoden aus dem agilen Umfeld (z.B. Serious Games) kombinieren, sollten aber Ihre Gruppe nicht von Methode zu Methode scheuchen und dabei den eigentlichen Zweck aus dem Blick verlieren.
  • Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit anderen, ob in User Groups oder online, und geben Sie so etwas an die LS-Community zurück.

Fazit

Wer andere Ergebnisse als bisher erzielen will, muss nicht bisherige Bemühungen intensivieren, sondern etwas anders machen als bislang und dabei vor allem an den Strukturen ansetzen, z.B. bei der Kommunikationsstruktur.

Dabei helfen Liberating Structures. Mit ihrem klaren, inhaltlichen Rahmen und knappem, vorgegebenem Tempo sind sie ein hilfreiches Mittel, um Gruppenkommunikation und Interaktionen zu strukturieren und sie effizienter und effektiver zu gestalten. LS können eine kraftvolle Wirkung entwickeln. Sie können auch Change-Prozesse unterstützen, etwa um agile Grundideen erlebbar zu machen. Moderator*innen gewinnen mit LS einen ganzen Werkzeugkasten voller Optionen, Teilnehmende in größeren Gruppen aktiv einzubeziehen und selbstverantwortlich Ergebnisse produzieren zu lassen.

Der Einsatz von LS mag zunächst nur eine kleine Veränderung im Umgang der Menschen miteinander bedeuten. Doch kleine Veränderungen können den Weg für große öffnen.

Hinweise:

[1] US-Website www.liberatingstructures.com/, deutsche Version: www.liberatingstructures.de.
Liberating Structure Design Cards von Holisticon könne hier bezogen werden – oder direkt im Hamburger LS-MeetUp. Alternativ gibt es auch eine kostenfreie App für iOS und Android.
Beispiele für Strings zu unterschiedlichen Anlässen und in verschiedenen Gruppen gibt es hier.

Dieser Beitrag wurde erstmals am 25.07.2019 auf dem Blog von t2informatik veröffentlicht:
https://t2informatik.de/blog/prozesse-methoden/liberating-structures-befreiende-strukturen-fuer-bessere-kommunikation/
Auch in englischer Version verfügbar.

Frauenförderung in Unternehmen

Frauenförderung in Unternehmen

Von einer Gleichstellung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Genau gesagt 202 Jahre, wenn es im derzeitigen Tempo weitergeht, so errechnete das Weltwirtschaftsforum in seinem „Global Gender Gap Report 2018“.¹ „Frauenförderung“ – schon das Wort wirkt stigmatisierend und löst bei vielen Männern spontane Ängste und Abwehr aus, und selbst bei Frauen hinterlässt es einen bitteren Beigeschmack. Denn gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Immer mehr von demselben macht es auch nicht besser. In ihrer jetzigen Form verstärkt Frauenförderung die alten Rollenbilder eher noch.

Das Phänomen der gläsernen Decke

Die Arbeitswelt wurde über Jahrhunderte von Männern geprägt und strukturiert, nach ihrem vorwiegenden Verständnis funktioniert sie bestens und kann so bleiben. Das Phänomen der gläsernen Decke entsteht daher durch drei bei Männern in Entscheidungspositionen überwiegend vertretene Haltungen, die Frauen den Weg in Spitzenpositionen verbauen:

  • Die konservative Haltung: Frauen werden in „Männerkreisen“ grundsätzlich abgelehnt. Sie hätten zwar die höhere Sozialkompetenz, verhielten sich aber unter dem Druck der höheren Verantwortung härter als ein Mann, verlören so ihre Sozialkompetenz und seien damit auch nicht mehr authentisch und glaubwürdig. Außerdem müssten sie nun einmal die Kinder bekommen und der Spagat Familie-Beruf sei einfach eine unlösbare Überforderung.
  • Die emanzipierte Haltung: Im mittleren Management sollten Frauen und Männer gleich vertreten sein, doch für höhere Ebenen fehle es Frauen einfach an Durchsetzungsvermögen. Da gehe es um Effizienz und knallharte Umsatzzahlen, das benötige viel mehr Härte … weiter siehe oben.
  • Der radikale Individualismus: Es komme einzig und allein auf die individuelle Kompetenz an, Rollenbilder hätten keine Bedeutung mehr, wir hätten doch alle die gleichen Chancen. Allerdings gäbe es bei den Frauen leider zu viele Defizite, sie wählten die falschen Berufe und würden meist selbst gar nicht in verantwortungsvolle Positionen wollen. So gäbe es einfach zu wenig fachlich geeignete, authentische und flexible Frauen für Top- Positionen.

Erfüllt eine Frau dennoch eine der von Männern genannten Anforderungen für Führungspositionen (Härte im Widerspruch zum althergebrachten Frauenbild, Durchsetzungsfähigkeit in männlichen Machtstrukturen, Fachlichkeit plus Authentizität und Flexibilität), steht sie damit immer gleichzeitig im Widerspruch zu den anderen beiden.

Eine Frau, die trotz allem die gläserne Decke überwunden und es in eine Spitzenposition wie Vorstand oder Aufsichtsrat geschafft hat, braucht einen verständnisvollen Partner, der bereit ist, seinerseits zurückzustecken und ihr den Rücken freizuhalten. Sonst müsste sie auf eine eigene Familie verzichten, was wiederum ihrem Ansehen schadet. Davon berichten viele Frauen, die sich zu dieser kleinen Elite zählen dürfen. Keine Frage, sie haben bewiesen, dass Frauen in Spitzenpositionen überzeugen können, und verdienen Achtung und Respekt. Doch hier werden die Rollenbilder einfach nur umgekehrt. Ansonsten bleibt alles beim Alten.

Frauenförderung stärkt althergebrachte Strukturen

Frauenförderung, wie sie bislang überwiegend umgesetzt wird, folgt der männlichen Argumentation und setzt an den vermeintlichen Defiziten der Frauen an.

Angeboten werden besonders häufig Seminare, in denen Frauen lernen, im männlich geprägten Arbeitsumfeld zurechtzukommen und „mitzuspielen“. Also Kommunizieren, Entscheidungen treffen und Führen wie Männer, sich in den vorhandenen Strukturen bewegen können. So bleiben sie stets unter Beweisdruck, dass sie ebenso gut oder gar besser sind als Männer. Gleichzeitig schaffen sie selbst bei hohem Frauenanteil in der Belegschaft nur relativ selten den Schritt durch die gläserne Decke in eine Spitzenposition. Das gilt als Scheitern der Frauen und ist Wasser auf den Mühlen der Gegner von Frauen in Führungspositionen und Frauenquoten, wobei selbst viele Frauen in diesem Sinne argumentieren („Ich hätte lieber einen Chef als eine Chefin.“, „Ich will keine Quotenfrau sein.“). Das System erhält sich selbst. Frauenförderung ist Teil dieses Systems.

Selbst die bei Arbeitgebern beliebten Auszeichnungen und Zertifikate für Frauenförderung im Unternehmen sind kontraproduktiv, solange sie nur auf Quoten und Angebote für Frauen z.B. zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgerichtet sind. Zum einen zementieren sie alte Rollenbilder. Zum anderen geht es nicht nur darum, wie und wie viele Frauen in Führungspositionen kommen, sondern wie wirksam sie im Unternehmen mitgestalten können, um Strukturen nachhaltig zu verändern.

Frauenförderung an sich ist ein Denkfehler

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, hat es Einstein bereits auf den Punkt gebracht.

Im 21. Jahrhundert kann es nicht mehr der Weg sein, Frauen an ein System anzupassen, das in jeder Hinsicht auf das Karrierebild von Männern in hierarchischen Organisationen ausgerichtet ist und in dem die Beurteilung von Kompetenz und Leistung stets nach einheitlichen, von Männern für Männer geschaffenen Kriterien erfolgt. Daran ändern auch Frauenquoten oder Mixed Leadership nichts, selbst wenn diese die öffentliche Diskussion fördern und mehr Frauen ermutigen. Frauen brauchen keine Nachhilfe und müssen auch nicht beweisen, dass sie mit Männern in der Arbeitswelt mithalten können. Das ist keine Frage. Es bleibt dabei zu viel Potenzial auf der Strecke. Es ist nichts falsch an den Frauen, der Wurm liegt im System.

Das System den Menschen und ihrer Diversität anpassen

Was Frauen wirklich brauchen sind gleiche Chancen, eine Anerkennungskultur und mehr Offenheit für andere Perspektiven und Ideen. Und das Selbstbewusstsein, eigene, weibliche Fußspuren setzen zu können und zu wollen. Dazu muss sich einiges in den Strukturen der Organisationen und Köpfen der Menschen verändern – parallel zu einander und nicht erst nacheinander.

Impulse für die Struktur:

  • Den Rahmen bildet ein kluges Diversity Management in enger Verzahnung mit einer Transformationstrategie für eine neue Arbeitswelt und Leadership 4.0. Eine kluges Diversity Management sorgt nicht nur für Vielfalt in der Belegschaft allgemein und in den Führungsebenen im Besonderen. Es sorgt auch dafür, dass die unterschiedlichen Menschen wirklich mitreden und mitgestalten können. Außerdem fördert es verschiedene Lösungsmöglichkeiten, die parallel gelebt werden können, sei es bei der Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort oder Laufbahngestaltung, der Wahl von Kommunikationswegen und – mitteln oder Wegen der Entscheidungsfindung. Der Wandel für eine neue Arbeitswelt fördert ein neues Verständnis von Führung/Macht, Kommunikation und Transparenz – entscheidende Faktoren für eine neue Micropolitik (Wer kommt wie in bestimmte Positionen, wer hat wie viel Einfluss, wie werden Entscheidungen getroffen etc.) im Unternehmen.
  • Statt Frauenförderung den Fokus richten auf Talentförderung, individuelle Personalentwicklung und lebensphasenorientierte Laufbahngestaltung. Je mehr auch hier Diversität in den Formen der Umsetzung gefördert und nutzbar gemacht wird, umso mehr profitieren Menschen und Unternehmen davon.
  • Größtmögliche Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit wäre ein echter Fortschritt. Präsenzstunden sagen nichts aus über Leistung. Stattdessen stabilisiert die Präsenzkultur alte Rollenbilder und Aufgabenzuschreibungen.
  • Mehr Projektaufgaben, eine Selbstverständlichkeit von Führung auf Zeit (unabhängig von Vollzeit) und ein Mix aus Arbeits- und Lernformen (in Präsenzform ebenso wie mit digitalen Tools) können weiter dafür sorgen, dass Menschen ihre Potenziale bestmöglich im Unternehmen einsetzen. Angebote, die das Netzwerken und kollegiale Unterstützung intern und über den Tellerrand des Unternehmens hinaus unterstützen, sind weitere Pluspunkte.
  • Alle Angebote sollten natürlich nicht nur im Rahmen von Frauenförderung sondern ausdrücklich für alle Beschäftigten gelten, unabhängig von Geschlecht und Elternschaft, Alter, Stundenumfang und Befristung des Arbeitsvertrages usw. Nur so trägt die Diversity-Strategie des Unternehmens zum Wandel in den Köpfen der Einzelnen bei.

Impulse für die Köpfe:

  • Wichtig ist ein Bewusstmachen und Aufbrechen der Gender-Stereotype, z.B. durch Gender Trainings, bis hin zu der Frage, wie sich Gender Mainstreaming in der täglichen Arbeit intern und je nach Branche auch in der Arbeit für den Kunden umsetzen lässt. Intern kommen so z.B. Recruiting, Aufgabenzuschnitte und Kompetenzanforderungen, Beurteilungssystematiken und Auswahlverfahren auf den Prüfstand ebenso wie Präsenzkultur, Meeting-Gewohnheiten uvm. Auch das Sichtbar-Machen von Frauen und ihren Leistungen ist ein wichtiger Beitrag dazu. Profitieren können davon nicht nur Frauen, sondern alle im Unternehmen.
  • Die besten Angebote nützen nichts, wenn Frauen sie nicht annehmen. Für sie gilt: Selbst mitgestalten und sichtbar bzw. hörbar werden statt auf eine Aufforderung zu warten. Außerdem Chancen nutzen, egal ob als „Quotenfrau“, wegen der Kompetenz oder sonst etwas. Männer fragen auch nicht, wie sie eine Chance bekommen haben, sondern greifen zu und setzen im Zweifelsfall auf Learning-on-the-job. Und sie tun gut daran.
  • Schluss mit dem unnötigen Männer-gegen-Frauen/Frauen-gegen-Männer-Gerede. Es gibt nicht eine große Zahl an Frauen, die mit beiden Beinen im Berufsleben stehen und verantwortungsvolle Jobs auch in Spitzenpositionen übernehmen können. Genauso gibt es viele Männer, die nicht immer nur Job und Karriere an erste Stelle setzen wollen, um einem veralteten Rollenbild zu entsprechen, sondern sich längst andere Prioritäten setzen und genauso Familienaufgaben wahrnehmen wollen. Die das Potenzial von Frauen und Vielfalt in der Arbeitswelt erkannt haben und sich für Chancengleichheit einsetzen – nicht nur bei der Kampagne #HeForShe.
  • Wenn Plan A nicht funktioniert, dann sollte man einen Plan B haben, statt Plan A einfach nur zu recyceln. Das gilt auch für die Frauenförderung. Lassen Sie uns über Plan B reden.

Hinweis:

[1] „Global Gender Gap Report 2018 als Download: https://www.weforum.org/reports/the-global-gender-gap-report-2018

Dieser Artikel ist erstmals am 28.01.2019 im Blog von t2informatik unter https://t2informatik.de/blog/prozesse-methoden/frauenfoerderung-in-unternehmen/ erschienen und ist auch auf Englisch verfügbar.

„Nicht nur reden, sondern tun“ Gender Mainstreaming im Verwaltungshandeln – Gender Training, ein Praxisbericht (Teil 3)

Gender Training3Dank einer umfassenden Strukturreform in der Verwaltung weist der Landkreis Holzminden seit einigen Jahren ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern in Führungspositionen auf. Doch darauf will man sich nicht ausruhen. Mit zwei vorangegangenen Gender Trainings hat der Landkreis Holzminden bereits 2016

  • die Führungskräfte der Kommunalverwaltung für Gender Aspekte sensibilisiert und
  • die interne Zusammenarbeit der Männer und Frauen mit Führungsauftrag gefördert, insbesondere mit Blick auf die Schlüsselkompetenzen „Kommunikation“ und „Konfliktfähigkeit“.

In 2018 soll das Thema Gender Mainstreaming nun breiter im alltäglichen Verwaltungshandeln verankert werden. Der Auftakt dazu war am 25. Mai das Gender Training Nr.3, erneut mit dem Moderationsteam Birgit Schiche/ Sven Friedrichs.

Frauen erleben die Welt anders als Männer

Unter dem Motto „Frauen erleben die Welt anders als Männer“ startete der Tag mit einem Impulsvortrag. Es wurde deutlich, dass Artikel 3 des Grundgesetzes seit 1949 die Gleichberechtigung beider Geschlechter garantiert und den Staat zur Beseitigung aller Benachteiligungen verpflichtet, doch auch das Verständnis von „Gleichberechtigung“ hat sich über die Jahre verändert. So werden gesetzliche Einschränkungen für Frauen erst nach und nach abgebaut, z.B. dürfen Frauen seit 1950 ohne Zustimmung ihre Ehemänner ein eigenes Konto eröffnen und den Führerschein machen, seit 1977 eigenständig eine Arbeit aufnehmen, seit 1992 auch in Nachtschichten arbeiten.

Dabei bestehen die entscheidenden Gremien bis heute mehrheitlich aus Männern. Selbst wenn alle Frauen in einem Gremium für einen Verbesserungsvorschlag votieren, können sie ohne männliche Unterstützer keine Mehrheiten erreichen. Ein Grund mehr, dass sich Männer und Frauen gemeinsam für Chancengleichheit stark machen und für Gender-Aspekte sensibilisieren.

Auch andere Facetten des Alltags erleben Frauen anders als Männer, z.B. mit Blick aufs Portemonnaie: Frauen verdienen i.d.R. weniger („Gender Pay Gap“ – hier gehört Deutschland zu den Schlusslichtern Europas), haben schlechtere Karrierechancen und ein deutlich höheres Armutsrisiko im Alter oder nach einer Scheidung. Sie stellen die überwiegende Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten und erledigen den größten Teil der unbezahlten Arbeit für die Familie, wie Hausarbeiten, Erziehung und Pflege.

Gleichzeitig zahlen Frauen bei achtzig Prozent aller Dienstleistungen einen höheren Preis für vergleichbare Leistungen (z.B. Friseur, Reinigung). Für viele Hygieneartikel, die sich bis auf Duftnote oder Farbe der Verpackung nicht von den männlichen Pendants unterscheiden, bezahlen Frauen ebenfalls mehr, auch für z.B. Elektrogeräte und andere Produkte in „Frauenfarbe Pink“. Kosmetikartikel, ohne die Frauen schnell als „unattraktiv“ oder „ungepflegt“ gelten, sind besonders teuer, ebenso die ständig wechselnde Damenmode. Darüber hinaus tragen unverheiratete Frauen mehrheitlich allein die relativ hohen Kosten für Verhütungsmittel.

Auch der Tagesablauf sieht für die Mehrheit der Frauen spätestens nach Familiengründung deutlich anders aus als für Männer, was sich an typischen Mobilitätsmustern verdeutlichen lässt. Während die Männer morgens meist mit dem Auto zur Arbeit fahren und abends zurück kehren, bringen Frauen per Fahrrad, Bus oder zu Fuß die Kinder in Kindergarten und Schule, bevor sie einer Teilzeittätigkeit nachgehen und auf dem Heimweg schnell noch einige Einkäufe erledigen, die Sprösslinge von Kindergarten und Schule wieder abholen und ggf. zum Sport oder Musikunterricht oder einfach zu einem Arztbesuch bringen.

Doch was hat all das mit dem Verwaltungshandeln zu tun?

Der Unconscious Bias und seine Konsequenzen

Die meisten Entscheidungen, die wir treffen,  sind sehr viel stärker von äußeren Umständen und Normen beeinflusst als es uns bewusst ist. Zum Beispiel eben von Geschlechterstereotypen.

Stereotype heißt, individuelle Informationen werden ersetzt durch Kategorien-Informationen. Sprich: Eine Erfahrung oder eine Person wird in eine (Denk-)Schubladen eingeordnet aufgrund einer Ähnlichkeit oder Assoziation. Stereotype dienen als einfache Entscheidungsregeln  („Faustregeln“), die uns erlauben, Informationen leichter zu verarbeiten. Sie können zutreffen, müssen sie aber nicht – und häufig ergibt sich so eine verzerrte Wahrnehmung. Das ist leider mehr die Regel als die Ausnahme. Denn unser Gehirn liebt Vertrautes und Denk-Abkürzungen und fokussiert sich darauf.

Solche Schablonen, die unbewusst und systematisch wertend verwendet werden nennt man „Unconscious Bias“. Differenzierte Wahrnehmung wird so blockiert. Und schlimmer noch: Stereotype, die beschreiben, wie wir glauben, dass die Welt sei, verwandeln sich häufig in Vorschriften, wie die Welt sein sollte. Oder unsere Rollenerwartungen an Männer und Frauen.

Wir können die Grundstrukturen unseres Gehirns nicht verändern, aber wir können entscheiden, welche Konsequenzen wir aus solchen Stereotypen zulassen wollen und welche nicht. Und wir können uns um „kontrollierte Subjektivität“ bemühen, indem wir uns unsere Denkautobahnen und Schubladen immer wieder bewusst machen. Daher gilt es, Prozesse und Vorgehensweisen bewusst aus diesem Blickwinkel zu hinterfragen. Denn nicht Frauen oder Männer müssen sich ändern, sondern die Spielregeln. Chancengleichheit ist eine gesellschaftliche Aufgabe.

Verhaltensdesign für mehr Chancengerechtigkeit

VerhaltensdesignDen Begriff „Verhaltensdesign“ hat die Schweizer Verhaltensökonomin und Autorin Iris Bohnet („What Works“) geprägt.  Verhaltensdesign für Chancengerechtigkeit meint, dass man Menschen in ihren Entscheidungen gezielt im Sinne von mehr Offenheit statt Stereotype beeinflusst, ohne ihre Entscheidungsfreiheit einzuschränken. In diesem Sinne werden Entscheidungs- und Handlungsprozesse bewusst hinterfragt und angepasst. Manchmal kann schon eine kleine Veränderung einen großen Unterschied im Ergebnis erzeugen.

Ein Beispiel: In den siebziger Jahren lag der Frauenanteil in den US-amerikanischen Top-Orchestern bei 5 Prozent, obwohl die Jurymitglieder absolut überzeugt waren, dass sie Kandidaten und Kandidatinnen rein nach dem objektiven musikalischen Können auswählten. Sind Frauen also schlechtere Musiker?

Irgendwann probierten die Orchester es aus, Bewerberinnen und Bewerber beim Vorspielen hinter einen Vorhang zu setzen. Das Ergebnis: In der ersten Runde erhöhte sich die Erfolgsquote um 50 Prozent, wenn ihre künftigen Kollegen nicht wussten, wer da spielt. In der Finalrunde erhielten sogar dreimal mehr Frauen eine Zusage für die Aufnahme ins Orchester, wenn sie hinter dem Vorhang musizieren.

Gender Mainstreaming im Verwaltungshandeln

Wie kann Gendergerechtigkeit im Sinne gelebter Chancengleichheit für alle durch Verwaltungshandeln gefördert werden, wobei regelmäßig die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern berücksichtigt werden? Nach einer Kurz-Vorstellung zweier Methoden für die Gender-Arbeit stand genau diese Frage im Mittelpunkt der folgenden Arbeitsgruppenphase. Hier diskutierten die Führungskräfte u.a. über

  • eine übergreifende Gender-Strategie
  • gendergerechte Sprache im Verwaltungshandeln
  • Gender Budgeting
  • Gender Mainstreaming in „Bau und Stadtentwicklung“ oder „Migration und Integration“
  • gendergerechte Angebote in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bzw. in der Bildungsarbeit
  • und weitere Aspekte.

Sechs Männer überlegten spontan, wie sie sich konkret für Chancengleichheit und Feminismus einsetzen können.

Vom Reden ins Tun kommen

Der Impulsvortrag „Storytelling und mentales Training“ rundete diese Phase ab. In der abschließenden De-Bono-Diskussion sammelten die Führungskräfte Fragen und Bedenken, Denkanstöße und praxisnahe Ideen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. „Wir sollten es möglich machen, dass intern Männer für einen Tag typische Frauenarbeitsplätze kennenlernen und Frauen klassische Männerjobs ausprobieren können, um neue Blickwinkel zu ermöglichen“, schlugen die Führungskräfte vor, oder: „Eine Software, die automatisch in eine gendergerechte Sprache umformuliert, das wäre echt praktisch!“. Und: „Wenn sich alle, Frauen wie Männer, Feminismus auf die Fahne schreiben, dann wachsen gegenseitiges Verständnis und Chancengleichheit viel schneller“. „Wir brauchen wohl noch mehr Hilfe bei der Konkretisiserung des Themas. Auch in Blick auf Seminare für die Teams“, lautete am Ende des Tages das Fazit einer Führungskraft. Die fröhliche Atmosphäre, abwechslungsreiche Gestaltung und Offenheit der Beteiligten in Diskussion und Dialogen waren nach mehrheitlicher Meinung die wichtigsten Erfolgsfaktoren dieses Tages.

Mit dem Auftrag, nun in den Fachbereichen vom Reden ins Tun zu kommen und die vielfältigen Anregungen wirklich für die Praxis zu nutzen, beendete Landrätin Angela Schürzeberg das dritte Gender Training. Dazu hatte sie noch ein besonders Angebot: Die ersten sechs Teams, die in die Umsetzung gehen wollten, konnten einen Beratungstag mit Birgit Schiche buchen. Innerhalb kürzester Zeit waren diese Beratertage belegt.

„Frauen kommunizieren anders, Männer auch“ – Gender Training, ein Praxisbericht (Teil 1)

Gender TrainingDer Landkreis Holzminden hat in den letzten Jahren durch strukturelle Veränderungen wie z.B. eine flachere Hierarchie die organisatorische Basis für mehr Chancengleichheit geschaffen. Durch eine umfassende Strukturreform in der Verwaltung im Jahr 2013 konnte der Anteil von Frauen in Führungspositionen von 33 Prozent auf knapp 50 Prozent gesteigert werden. Im nächsten Schritt sollte der „Gender-Blick“ in den Arbeitsalltag integriert werden. Und zwar von Frauen und Männern gemeinsam.

Landkreis Holzminden setzt auf Gender Training

Der Landkreis Holzminden hat seine Ziele zur Frauenquote zahlenmäßig bereits erreicht. Doch noch ist man in Sachen Chancengleichheit nicht am Ziel. Der größte Mehrwert entsteht, wenn Frauen und Männer bewusst ihre Stärken wertschätzen und miteinander verknüpfen. Doch so leicht lassen sich alte Gewohnheiten zu Rollenbildern und Sprache nicht ablegen, und ohne einen bewussten Wandel der Haltung würde man viele Chancen verschenken. So kamen die Gleichstellungsbeauftragte Sigrun Brünig, Personalentwicklerin Silke Böker und Landrätin Angela Schürzeberg auf die Idee, Gender Trainings für die Führungskräfte der Kreisverwaltung durchzuführen, um Chancengleichheit von Männern und Frauen in der Verwaltung ebenso wie im Verwaltungshandeln noch stärker zu verankern.

Kommunikation hat eine Schlüsselrolle

„Wer die öffentlichen Zustände ändern will, muss bei der Sprache anfangen“, sagte Konfizius. Dieses Zitat nahmen die drei Holzmindener Initiatorinnen zum Motto. Für sie spielt Kommunikation eine wichtige Rolle, sowohl zwischen den Führungskräften und Beschäftigten, als auch in der Kommunikation zu den Einwohnerinnen und Einwohnern. Mit dieser Vorgabe wurde das Moderatorenduo Birgit Schiche/Sven Friedrichs mit der Entwicklung des ersten Gender Trainings „Männer kommunizieren anders, Frauen auch“ beauftragt.

„Ziel des Seminares ist es, sich der klassischen Stereotypen und Kommunikationsmuster sowie der eigenen Beiträge dazu bewusster zu werden. Das jeweilige Selbstbild soll reflektiert und der besondere Mehrwert erkannt werden. Wie können Sie noch wirksamer aus Ihrer besonderen Rolle als Führungskraft kommunizieren?“, so Schürzeberg in der Einladung an die Führungskräfte.

Über Kaffeekränzchen und Seilschaften

Die Teilnahme am ersten Gender Training im März 2016 war für die Führungskräfte des Landkreises verbindlich – und nicht unumstritten. Skepsis wurde laut. Dennoch ließen sich die etwa dreißig Männer und Frauen auf die zweitägige Veranstaltung und die Denkanstöße des Moderatoreduos ein. „Die Zusammensetzung des Moderatorenteams mit Mann und Frau, ihre hohe Fachkompetenz und humorvolle Begleitung waren für uns besonders wichtig“, betonten die Teilnehmenden später.

Am ersten Tag arbeiteten Männer und Frauen zunächst in getrennten Gruppen, was einige anfangs irritierte. Doch dann ließen sie sich auf den so geschaffenen Rahmen ein, um „aus dem Nähkästchen zu plaudern“ und sich offen auszutauschen.

  • Wieso kommunizieren Frauen nach dem Modell „Kaffeekränzchen“ und Männer nach dem Muster „Seilschaft“ – und wie zeigt sich das im Alltag? Mit welchen Konsequenzen?
  • Wie füllen Männer ihre Führungspositionen aus und wie gehen Frauen damit um? Was machen Frauen anders?
  • Welche Kommunikationsmuster finden sich bei Frauen und Männern?
  • Wie können  weibliche und  männliche Potenziale am besten wirken?
  • Wie kann die Kommunikation mit Mitarbeitenden und auch mit Bürgerinnen und Bürgern gewinnbringend für alle gelingen?
  • Wie unterscheidet sich das Konkurrenz- und Konfliktverhalten bei Männern und Frauen – und wie fühlt sich das an?
  • Welche Rolle spielen Stimme und Körpersprache? Wie setze ich diese selbst ein?
  • Was heißt es, zweisprachig (Männer-/Frauensprache) zu werden?
  • Wie gehen die Geschlechter mit Risiken um und wie ist unter Druck die individuelle Neigung zu Angriff, Flucht oder Erstarrung? Wie ist das bei mir selbst?
  • Was haben Erfahrungen aus Elternhaus, Kindergarten und Schule damit zu tun?

lauteten u.a. die Diskussionspunkte.

Botschaften ans andere Geschlecht

In der zweiten Tageshälfte wechselten die Moderatoren in die jeweils andere Gruppe und luden zum Perspektivwechsel ein. So tauschten sich die Teilnehmenden über die wahrgenommenen Stärken und Schwächen der Geschlechter aus und schickten der jeweils anderen Gruppe Botschaften und Wünsche für eine wertschätzende Kommunikation und Zusammenarbeit in der Kreisverwaltung. Botschaften der Frauen an die Männer waren z.B.: „Es hilft uns für das Verständnis, wenn wir Emotionen bei euch erkennen und ihr auch drüber redet“ und “Nutzt unsere Stärken für ein ‚rundes‘ Ergebnis“. Die Männer wünschten sich umgekehrt: „Bitte keine emotionalen Reaktionen ohne Erklärung und mehr offene Botschaften“ und fragten, welche Erwartungen die Frauen an männliche Führungskräfte stellten.

Lernen mal anders

Je besser die Kommunikation gelingt, desto größer wird der Turm.
Je besser die Kommunikation gelingt, desto größer wird der Turm.

Es folgten am 2. Tag Arbeitsaufgaben in Tandems und gemischten Gruppen. Dazu nutzen die Moderatoren Elemente aus der Großgruppenarbeit wie Appreciative Inquiry und  World Café ebenso wie spielerischen Lernelemente, um zur (Selbst-)Reflexion über Kommunikation und Zusammenarbeit und die eigenen „Schubladen im Kopf“ anzuregen.

 

Alle haben Schubladen im Kopf

„Am zweiten Tag prallten beide Welten aufeinander – ein spannender Versuch, stereotype Rollenbilder sichtbar werden zu lassen!“, zog die Gleichstellungsbeauftragte Bilanz nach der ersten Veranstaltung. „Das befürchtete Weichspülen der Männer ist nicht erfolgt“, hielt einer der Teilnehmenden schmunzelnd zum Abschluss fest. „Wir alle haben Schubladen im Kopf. Es gab viel Selbstreflexion und wir haben sehr viel gelacht“, zogen auch die anderen Resümee. So entstand gemeinsam der Wunsch, das Thema weiter zu vertiefen. Das zweite Gender Training folgte noch im selben Jahr. (Siehe Praxisbericht Teil 2)

„Männer streiten anders, Frauen auch“ – Gender Training, ein Praxisbericht (Teil 2)

Gender Training3Der Landkreis Holzminden geht mit seinen Gender Trainings einen entscheidenden Schritt über die etablierten Angebote der Frauenförderung im öffentlichen Dienst hinaus. Indem er gezielt Frauen und Männer einbezieht, um gemeinsam alte Rollenbilder und Verhaltensmuster zu reflektieren und neue Sichtweisen zu entwickeln, werden sowohl Chancengerechtigkeit als auch Kommunikation und Zusammenarbeit verbessert.

Das zweite Gender Training „Frauen streiten anders, Männer auch“ mit dem Moderationsteam Birgit Schiche/ Sven Friedrichs folgte im Oktober 2016 in der Grundstruktur weitgehend der ersten Veranstaltung. Inhaltlich lag der Fokus vor allem auf dem unterschiedlichen Konkurrenz- und Konfliktverhalten von Männern und Frauen. „Bestimmt werden wir dadurch zu einem besseren Verständnis, besserer Zusammenarbeit und Konfliktlösungskompetenz kommen“, so die Intention der Holzmindener Initiatorinnen Sigrun Brünig (Gleichstellungsbeauftragte) und Silke Böker (Personalentwicklerin). Aufbauend auf das erste Training vertieften die Teilnehmenden ihre Erkenntnisse zum Status-Verhalten und den vielen meist nonverbalen Botschaften, die wir täglich und überwiegend unbewusst senden. Im Gender-Quiz traten die Führungskräfte in gemischten Teams an, um Fragen zu genderspezifischen Themen zu lösen.

Je größer Wissen und Sensibilisierung zu diesen Themen sind, desto besser lassen sich Missverständnisse und unnötige Konflikte vermeiden. Daher wurde im Gender-Talk weiter diskutiert:„Wie streiten Männer – wie streiten Frauen?“ und „Wie denken wir über Streiten, Diskutieren, Meinungsverschiedenheiten?“ – mit spannenden Erkenntnissen und Ergebnissen für die Streitkultur.wie-Männer-und-Frauen-streiten

Den Blick schärfen und voneinander lernen

Die Führungskräfte des LK Holzminden nahmen auch aus dem zweiten Gender Training einiges für sich mit: „Wie sind oft besser, als wir glauben. Und wir können den Blick noch schärfen in Bezug auf das Gelernte und unseren täglichen Umgang miteinander“. Die „Schubladen im Kopf“ helfen ebenso wie Rollenstereotype dabei, eine gewisse Berechenbarkeit und damit Sicherheit zu gewinnen. Doch es lohnt sich auf jeden Fall, solche Annahmen immer wieder zu hinterfragen und auch beim Gegenüber nachzufragen, verschiedene Meinungen mal nebeneinander stehenzulassen und sich darüber bewusst zu sein, das beide Geschlechter voneinander lernen können. Diese und weitere Erkenntnisse hielten die Teilnehmenden am Ende des Trainings fest.

Und sie wollen noch öfter in dieser Runde zusammen kommen, um bei dem Thema am Ball zu bleiben, denn es waren „Wunderbare Seminartage zur humorvollen Selbstreflexion und Beobachtung“, wie Sigrun Brünig zum Abschluss festhielt: „Beim Landkreis Holzminden existiert die Zuversicht, dass es gelingen wird, Geschlechtergerechtigkeit als ein Selbstverständnis anzusehen“. Fortsetzung folgt.

Lernen und diskutieren auf Augenhöhe über flexible Arbeitsmodelle

Angeregte Diskussionen in der Session zu "Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort"
Angeregte Diskussionen in der Session  „Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort“ (Foto: Alexander Krause)

Rund einhundert Menschen waren beim ersten Augenhöhe Camp am 2.7.2015 in Hamburg. Gestandene Personaler, Scrum Master, Berater, Unternehmer, Auszubildende und Führungskräfte, aus kleinen, mittleren und großen Betrieben ebenso wie Freiberufler – es war genau diese bunte Mischung, die einen spannenden und anregenden Austausch über die neue Arbeitswelt versprach. Die Themen reichten von „Recruiting mit AH-Moment“ über „Ausbildung als Säule der Organisationsentwicklung (bei dm – drogeriemärkte)“ bis hin zu „Selbstorganisation und Führung“. Mehr lesen